Der Pianist und Komponist Ralf Schmid steht mit seinem Projekt PYANOOK an der Spitze der neuen Avantgarde. Er erweitert sein Schaffen durch die Verwendung von Datenhandschuhen, mit denen er seine Musik in Echtzeit digital modifiziert. Dadurch entwickelt er neue Klangwelten, die den Geist der Gegenwart reflektieren.
„Ein Flügel braucht eigentlich keine Elektronik, der klingt auch als solcher toll. Aber man kann ihn elektronisch erweitern und damit neue Musik erfinden und performen, die ihn in die Zukunft trägt.“ Ralf Schmids Liebe für das Klavier spürt man, ohne mit ihm in einem physischen Raum zu sitzen. Seine Begeisterung für Technologie ist mindestens genauso intensiv. Weder zu Bachs noch zu Bartoks Zeiten gab es die Möglichkeit, sich über Zoom zu unterhalten, so der Freiburger. „Sie ließen eben die Innovationen ihrer Zeit in ihre Musik einfließen.“ Im Zentrum seines derzeitigen künstlerischen Schaffens steht die moderne Technik in Form von Datenhandschuhen.
Begonnen hat alles mit dem klassischen Klavierstudium in Stuttgart. Neben der Hochschule spielte der gebürtige Konstanzer viel Jazz, Pop und Funk. Seine Interessen waren noch nie an ein Genre gebunden. Irgendwann kam die Gelegenheit, sich in Amerika im Jazzbereich weiterzubilden, um einen starken Akzent auf das Arrangieren und Komponieren zu legen. Von Anfang an wollte Schmid selbst Musik schreiben. Nur selten gab es Projekte, in denen er nicht neue Noten zu den Proben brachte und ansagte, welche Musik aufs Pult kam und auch wie sie gespielt werden sollte. Daraus habe sich zwangsläufig ergeben, die Dinge selbst aufzuschreiben und zu komponieren, so Schmid. Gegen Ende seiner Studien mit Mitte zwanzig begann sein Einstieg ins professionelle Musizieren. Wie bei so vielen Musikkarrieren gibt es neben einem künstlerischen Antrieb auch einen pragmatischen. Anfangs war Schmid noch freischaffend und lebte fast ausschließlich vom Komponieren. Für verschiedene deutsche Rundfunkensembles, Bigbands, Chöre und Orchester schrieb er Auftragswerke, die er oft selbst dirigierte. Seit 2002 lebt er hauptsächlich von seiner mittlerweile vollen Professur in Freiburg. 2015 widmete er sich erstmals seinem Soloprojekt PYANOOK. Dabei sei er unterschiedlichen Motivationen gefolgt. Eine davon sei die fehlende Unabhängigkeit in seinen Projekten gewesen, äußert der Pianist. Meistens habe er mit großen Ensembles zusammen gearbeitet, was die Möglichkeiten der individuellen Entfaltung begrenzte.
Mit PYANOOK begab Schmid sich auf eine neue Suche nach seinem künstlerischen Selbst: „Schlicht mal zu fragen: Was treibt mich an? Was mache ich, wenn nur ich allein entscheide? Welche Musik erklingt? Welche Art von Performance findet statt? Wie sieht das Licht aus und an welchen Orten spiele ich? Ich wollte sehen was passiert, wenn ich alle Entscheidungen selbst treffe.“ Neben seiner Weiterentwicklung zu autonomen Entscheidungen lag ihm auch die klangliche Weiterentwicklung des Klaviers am Herzen. Über John Cage, der stilprägend mit verschiedenen Tools wie Vierteltonklavieren oder Gummimatten arbeitete, landete Schmid letztendlich bei der Elektronik. Als wichtige Inspirationsquelle nennt der Pianist die Gitarre, die ab den 50er Jahren durch die Elektrifizierung eine Revolution erlebte. Durch einen Freund kam Schmid an die damals noch sehr raren mi.mu Gloves. Das sind Datenhandschuhe, die durch kleinste Bewegungen verschiedene Klangveränderungen ermöglichen.
„Es war am allermeisten der Wunsch, das Klavier zum Fliegen zu bringen und woanders hinzubringen – in seinen Farben, in seinen Spielmöglichkeiten.“
Schmid arbeitet mittlerweile mit zwei Flügeln, deren Klänge über Mikrofone in seinen Computer geleitet werden. Dort fügt er ihnen dann verschiedene Effekte hinzu. Auf einem Mischpult können diese Klänge rein- oder rausgedreht werden – genau diese Bewegungen werden auf die Handschuhe übertragen. „Das heißt, wenn ich jetzt eine öffnende Bewegung verknüpfen möchte, richte ich den Computer so ein, dass einem der Regler sagt: ‚Mach Hall rein‘. Dann entsteht in diesem Moment Hall. Wenn ich die Arme wieder schließe, ist dieser Hall weg“, demonstriert er seine Arbeitsweise. Auf dem Computer kann genau verfolgt werden, wie der Regler sich für den jeweiligen Parameter bewegt. Schmid hat für jeden Song ein anderes Setting eingerichtet, das er während eines Konzerts durch Knöpfe an den Handschuhen regulieren kann. Die Klänge entstehen bisher alle ohne Synthesizer, da es noch zu viele unausgeschöpfte Möglichkeiten gibt, die in der Kombination zwischen Effekten und Handschuhen stecken. Für Schmid sei das Komponieren aber immer ein freier Entwicklungsprozess, weshalb er sich mittlerweile von einem ursprünglich kompromisslosen Anspruch gelöst habe: „Am Anfang habe ich alle Sounds im Klavier erzeugt. Dann habe ich viel mit Beatboxern gearbeitet und einige ihrer Beats übernommen, die ich jetzt auch über die Handschuhe starten kann.“
Feine Fingerbewegungen bewirken feine Klangänderungen
Die Datenhandschuhe eröffnen verschiedene neue Dimensionen. Eine davon ist die Optische. Alle Bewegungen, die Schmid macht, folgen in ihrer visuellen Umsetzung einer körperlichen Logik. Auf diese Weise sind sie mit einem Klang verknüpft. Eine andere neue Ebene bildet die der schwebenden Klänge. Schmid kann beim Musikmachen vom Klavierstuhl aufstehen, das kann Teil einer Komposition sein: „Es gibt bisher kaum Situationen, wo man als Pianist diesen Platz verlässt. Man sitzt immer vor der Tastatur.“ Im 21. Jahrhundert greife man auch mal ins Klavier hinein, laufe drum herum oder klopfe darauf. Die Handschuhe aber ermöglichten es aufzustehen, den Klang festzuhalten und ihn aus 10 Meter Entfernung weiter zu bearbeiten, erzählt Schmid.
Seine Kompositionen entwickeln sich oft durch reines Experimentieren. Auf viele Elemente komme man durch überraschende Kombinationen. Er vergleicht seine Herangehensweise mit der Arbeit in Ensembles: „So ist das auch, wenn man mit anderen Leuten zusammen freispielt. Da entstehen Dinge, die man sich niemals ausdenken könnte. Die kommen nur in dem Moment, in dieser Klangkonstellation, in dieser menschlichen Begegnung.“ Schmid hält Krisensituationen für besonders fruchtbare Zeiten hinsichtlich künstlerischer Prozesse: „Wenn man überlegt, wann über die Jahrhunderte gesehen gute Musik geschrieben wurde, war das oft in Zeiten des Umbruchs.“ Da er kein freischaffender Musiker mit Existenznöten sei, versuche er seine privilegierte Position in der Krise zu nutzen, um etwas hervorzubringen. Die Zeit, die ihm durch weiterhin abgesagte Konzerte zur Verfügung stehe, nutze er für die Vertiefung anstehender Projekte. Für das PYANOOK Setting arbeite Schmid derzeit an einem Auftragsklavierkonzert, das in Zusammenarbeit mit dem OModernt Kammerorchester Stockholm und den Trondheim Voices im Januar 2022 in München uraufgeführt werden soll, verrät er. Außerdem solle es im nächsten Jahr ein zweites PYANOOK Album geben, in dem neben Solostücken auch einige der „Corona CollabTracks“ mit Künstler*innen aus verschiedenen Teilen der Welt vertreten sein werden, berichtet Schmid weiter. Eine Kreation, die sich aus seinen regelmäßigen Livestreams entwickelt hat.
„Ich ziehe den Flügel in unbekanntes Terrain. Man sieht weder den Horizont noch irgendetwas anderes.“
Sein Projekt verankert eine Zusammenführung aus analogen und digitalen Klängen. Seit mittlerweile mehr als fünf Jahren vereint er seine Virtuosität am Klavier mit dem differenzierten Einsatz moderner Technologie. Das ermöglicht eine Mischung aus menschlichem und mechanischem Klavierspiel. Bezeichnend für seine Kunst ist die direkte Symbiose der Musik mit der Technik, anstatt bestehende Klänge im Nachhinein zu modifizieren.
Mit PYANOOK – ein Fantasiename, der auf die unendlichen Möglichkeiten anspielt, die sein Innovator fortwährend zu entdecken sucht – erreicht Schmid ein breites Publikum. Er versuche den Leuten die Angst zu nehmen, die mit der Kombination Musik und Technik einhergehe. An seiner Person habe sich durch die Technologie nichts verändert: „Ich bin nach wie vor der gleiche Musiker, der jetzt einfach nur neue Tools zur Verfügung hat.“ Die Angst vor Hightech verstehe er nur teilweise. „Klar, die Menschheit ist geprägt von Technologie, aber irgendwie war sie das schon immer“, bemerkt der Pianist. „Das Telefon oder die Glühbirne waren genauso bahnbrechende Dinge, wie jetzt plötzlich mit KI umgehen zu müssen. Die meisten Leute, die wir musikalisch verehren waren in ihrer Jetztzeit und haben diese in ihrer Musik reflektiert.“ Es sei großartig, dass es zum Beispiel in Freiburg das Barockorchester gebe. Die Pflege der Traditionen hält Schmid für absolut richtig. Aber trotzdem: Die Musik, die jetzt entstehe, die könne gar nicht anders als Kontexte ihrer Zeit aufzunehmen, erklärt der Freiburger. Das bewusst zu verhindern und zum Beispiel zu sagen, KI dürfe es in der Musik nicht geben, hält er für zu kurz gedacht.
„Ich finde auch die Erfindung des Autos, des Flügels oder des Ventilhorns enorm.“
Der Markt für KI in der Musik ist schon längst da. Nach Schmidt sei es inzwischen gängig, bei einem Soloklavierabend nicht mehr nur Beethovensonaten oder Jazzstandards aufzuführen, sondern mit Elektronik, visuellen und digitalen Elementen zu experimentieren. Das Interesse für Projekte wie PYANOOK ist vorhanden: „Es gibt ein großes Publikum dafür und das Mindset der Leute ändert sich.“ Verschiedene Stile gleichzeitig zu performen, geschweige denn zu studieren, galt in den 90ern als außergewöhnlich. Heute empfindet der Pianist das jedoch eher als Normalfall, auch wenn es vor allem an Hochschulen und bei der GEMA noch immer eine klare Trennung gäbe. Schmid erachtet es in der Ausbildung für wichtiger, dass Musiker*innen in ihrer Entwicklung mit mehreren Musiksphären bekannt gemacht werden, als sie in genrespezifische Schubladen zu stecken. Er vertritt eine ebenbürtige Herangehensweise an Musik: „Für mich war es von Anfang an gleichwertig, ob ich eine Matthäuspassion höre oder eine Miles Davis Platte. Natürlich spezialisiert man sich irgendwann und auch der Markt verlangt ein gewisses Labeling.“ Hier liege ein maßgeblicher Grund für das Festhalten an der Trennung von sogenannter „Ernster Musik“ und „Unterhaltungsmusik“. Begriffe, die längst nicht mehr zeitgemäß sind, aber bei der GEMA große finanzielle Unterschiede bedeuten. Die Diskussion über Klassik vs. Jazz sei seiner Meinung nach trotzdem längst geführt: „Heute geht es doch um andere Themen: Um die Neubalancierung der bisher von weißen Männern dominierten Musikprogramme, um Hegemonie und Rassismus zum Beispiel in der Musiktheorie oder um unsere Rolle als Musiker*innen in der drohenden Klimakatastrophe. Das sind hochwichtige Themen und ich bin froh, dass wir da endlich hinkommen. Und ich bin mir sicher, dass diese Diskussionen Spuren hinterlassen werden.“