Es ist wohl nicht zu vermeiden, dass dieses Porträt auf denselben ausgetretenen Pfad tappt und nach der Angabe einiger Lebensdaten das didaktische Werk Carullis gleich an den Anfang setzt und feststellt, dass er vor allem dafür bekannt sei. Weiter ginge es damit, er habe ja aber so viel anderes geschrieben, was unbedingt erwähnenswert wäre, worauf eine Auflistung dieses unbedingt Erwähnenswerten à la „zahlreiche Werke für klassische Gitarre, Kammermusik und Konzerte“ folgte, bevor es auch schon wieder endete. Ja, Carulli hat eine Gitarrenschule geschrieben (Metodo, op. 27) und ja, sie wird auch heute noch von vielen Gitarristen genutzt und ja, die – zurecht – berühmte Schule überschattet wohl tatsächlich oft den Rest seines Œuvres. So, und nun nochmal von vorn:
Tatsächlich war der große Gitarrenvirtuose Ferdinando Carulli zunächst ein sehr begabter Cellist, bevor er im Alter von 20 Jahren auf sein Instrument wechselte. Das Spielen brachte er sich offenbar selbst bei, über einen Lehrer oder Unterrichtsstunden ist nichts bekannt. Die Gitarre wurde bis dato vor allem als Begleitinstrument für Gesang geschätzt, doch Carulli sah noch mehr Potential in ihr schlummern. Er entwickelte neue Spiel- und Klangtechniken, die ihn zu einem gefragten und bewunderten Konzertgitarristen machten. 1808 ließ Carulli sich in Paris nieder, wo er auch Schüler unterrichtete und natürlich: weiter komponierte.
Damit sind wir mit diesem Porträt in einer Zeit nach 1800 angelangt und nach diesem Jahr reißen die gesicherten biographischen Informationen über ihn ab, der Rest ist sozusagen legendenbasiert. Aber zurück zu den Kompositionen! Carullis Werk ist eindeutig keine Legende und darüber hinaus sehr umfangreich und formal vielfältig. Neben zahlreichen Solostücken und Duos für klassische Gitarre schrieb er Kammermusik für viele unterschiedliche Besetzungen mit Gitarre, Streichern, Bläsern und Klavier und auch einige Gitarrenkonzerte. Ja, und seine Etüden und die Gitarrenschule natürlich.
Bei einem Blick auf die Titel seiner Werke fällt auf, dass Carulli – wie es damals Mode war – oftmals Melodien, Phrasen und Themen anderer Komponisten verarbeitet. So finden sich zum Beispiel Adaptionen von Arien und Overtüren der Opern von Rossini, Bellini, Donizetti, Mozart, Gluck, Cimarosa, aber auch von Werken und Motiven von Haydn, Beethoven, Hummel, Weber, Meyerbeer, Halévy und Boieldieu.
Es war zu der Zeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht unüblich, dass sich Gitarristen und Gitarrenbauer zusammentaten, um gemeinsam an der Verbesserung des immer mehr in Mode gekommenen Instruments zu werkeln. Carulli schuf in Paris mit dem Gitarrenbauer René-François Lacôte zum Beispiel um 1830 das Decachord, eine zehnsaitige Gitarre, für die er auch einige Werke schrieb.
Ferdinando Carulli war in seiner Musik und Technik auf der Suche nach Neuem. Der Gitarrist und Komponist Romolo Ferrari beschreibt eine Anekdote, die er einer Niederschrift des belgischen Komponisten und Musikbiographen François-Joseph Fétis entnommen hat:
Gerade frisch in Paris angekommen wurde Carulli auf eine Party eingeladen, an der auch der berühmte Pianist Johann Ladislaus Dussek teilnahm. Dieser gab den anwesenden Gästen eine Kostprobe seines Könnens und ermunterte Carulli, es ihm an seinem Instrument gleichzutun, was dieser dann auch tat – und die Zuhörer mit einem zu diesem Zeitpunkt völlig neuen Klang und Spiel in Staunen versetzte. Dussek attestierte Carulli daraufhin, dass er ein großer Künstler sei. Fétis gibt Dussek Recht, denn: Ein Künstler sei immer groß, wenn er neue Wege erschließt und die Grenzen seiner Kunst erweitert. In der Tat – tanti auguri, Ferdinando Carulli!