Menschen verschlafen durchschnittlich ein Drittel ihres Lebens. Wir brauchen Schlaf, wie wir Nahrung brauchen. Er ist eine essenzielle Funktion, bei der sich Geist und Körper, von den Belastungen der Tagesaktivität beansprucht, erholen können. Wer besonders erschöpft ist, der*die schläft auch mal im Sitzen ein, was sogar gefährlich sein kann, zum Beispiel am Steuer.
Regeneration, das bedeutet, sich zeitweise bestimmter Belastungen zu entziehen, um sich um das Wiederherstellen der zur Bewältigung notwendigen Ressourcen zu kümmern. In Bezug auf unsere Psyche äußert sich das vor allem im Verlust des bewussten Wahrnehmens. Schlafen, eine Stütze des Lebens, wird nicht umsonst oft als kleiner Bruder des Todes beschworen. Wenn wir schlafen, dann scheinen wir „weg“ zu sein.
Ein entfernter Bekannter des Todes
Diese Überzeugung ist falsch und wahr, je nachdem, was wir mit „Wegsein“ bezeichnen möchten. „Weg“ ist im Schlaf vor allem die volle Bewusstheit über die Inhalte unseres Geistes. Selbst wenn wir Träumen, dann fehlt der tatsächlich praktische Aspekt unserer geistigen Zustände. Denn was sich als Szenario in unserem Kopf abspielt, simuliert uns Situationen, in denen wir uns eigentlich nicht befinden.
Wir handeln, ohne wirklich über unser Tun reflektieren zu können, weil wir unser Erleben nicht zu einem Objekt unserer Gedanken machen können. Aber: Unsere Wahrnehmung setzt während des Schlafens nicht komplett aus, denn sonst würde ein Wecker seinen Zweck nicht erfüllen können. Außerdem beeinflussen äußere Faktoren wie Helligkeit und Umgebungsgeräusche unsere Schlafqualität. Schlaf und Tod sind also eher so etwas wie entfernte Bekannte.
Schallwellen, Hirnströme
Auch im Schlaf werden Wahrnehmungen im Hirn verarbeitet. Das möchten sich diverse im Internet verfügbare Klänge mit Hilfe sogenannter binauraler Beats zu nutzen machen. Binaurale Beats sind ein Effekt, der entsteht, wenn auf dem rechten und linken Ohr Sinusklänge mit leicht unterschiedlichen Frequenzen aufgenommen werden.
Über Kopfhörer gehört, erzeugt die Reibung der Frequenzen eine Schwingung, die den Klang um einen weiteren, eigentlich nicht vorhandenen Ton erweitert. Die daraus resultierende Stimulation des Hirns soll bestimmte Hirnfrequenzen verändern und unter anderem auch zu erholsamerem Schlaf verhelfen können. Eindeutig nachgewiesen ist dieser Effekt bisher nicht.
Wissenschaft sagt ja!
Gute Nachrichten für diejenigen von euch, die sich im Bett musikalisch beschallen lassen: In mehreren Studien wurde nachgewiesen, dass Menschen vieler Altersgruppen eine Verbesserung der Schlafqualität erfahren, wenn sie zum Einschlafen Musik hören. Es wurde nämlich festgestellt, dass die Studienteilnehmer*innen schneller ein- und besser durchschliefen, wenn sie während des Einschlafens ruhige Hintergrundmusik oder Musik ihrer Wahl gehört haben.
Während in einer Studie eine Optimierung der Schlafqualität bei Kindern durch Einsatz von ruhiger Ambient-Musik untersucht wurde, konnte für Student*innen abgesehen von einer erhöhten Schlafqualität eine statistisch signifikante Verbesserung der Stimmung festgestellt werden, wenn sie vor dem Schlafen klassische Musik gehört hatten. Ziemlich cool, oder?
Songs for the Deaf
So „weg“ wir im Schlaf sein mögen: Alle über die Hörorgane aufgenommenen Reize werden während des Schlafens in irgendeiner Weise von unserem System verarbeitet. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass der Thalamus im Schlafzustand selektiv eine Weiterleitung von Sinneseindrücken an die Großhirnrinde verhindert. Auf Deutsch heißt das, dass die meisten Klanginformationen einfach nicht weit genug in bestimmte Hirnareale eindringen, um unseren Schlaf stören zu können.
Ein komplexer und noch nicht vollständig erforschter Mechanismus nimmt eine Bewertung der Reize anhand der Assoziationen vor, die er weckt: Unter jungen Eltern ist das Phänomen des Ammenschlafs bekannt, der selbst durch sehr leises Wimmern des Nachwuchses unterbrochen wird. Auch das Fehlen vertrauter Reize kann den Schlaf negativ beeinflussen. Es ist also definitiv so, dass alles, was wir in der Nacht hören, irgendwie einen Einfluss auf uns hat.
Meine eigenen Erfahrungen decken sich mit all dem. Ich kann sehr gut einschlafen, wenn ich ruhige, repetitive Musik höre, obwohl ich eigentlich ein ziemlicher Grübler bin. Am besten funktioniert es, wenn es Musik ist, die die perfekte Mitte zwischen langweilig und überfordernd trifft, sodass meine Aufmerksamkeit ganz mühelos mit der Musik mitgehen kann. Damit ihr eine Vorstellung davon habt, was mich so richtig müde macht, stelle ich euch nun ein Werk vor, zu dem ich schon oft im Schlaf versunken bin.
Meine persönliche Schlaftablette
„Sleep“ ist ein Zyklus des kontemporären Komponisten Max Richter. Er dauert rund achteinhalb Stunden, besteht aus 31 Abschnitten und soll den Soundtrack zu vielen Stunden erholsamen Schlafes liefern. Die Musik ist langsam, melancholisch, irgendwie angenehm und beruhigend. Trotzdem empfinde ich sie als wahrhaftig, etwas, das eben nicht nur Gebrauchswert hat, wie die Wahl des Titels vielleicht vermuten lassen könnte: Der qualitative Unterschied zum eindimensionalen zehn-Stunden-Schlafmusik-Video bei YouTube besteht im musikalischen Detailreichtum, der inhaltlichen Vielschichtigkeit und Deutbarkeit.
Die kompositorische Struktur hat Richter in Zusammenarbeit mit einem Neurowissenschaftler entwickelt und soll konsonant mit den menschlichen Schlafphasen sein. Wir haben es nicht nur mit einem acht Stunden langen Schlaflied zu tun: Gleichermaßen ist es Musik über das Phänomen Schlaf, das einen Kontrapunkt zum überreizenden Alltag setzen möchte, in welchem für Ruhe oft wenig Zeit bleibt. „Sleep“ klagt den Charakter von Musik im Sinne des Zeitgeistes als Verbrauchsgut an, kann aber selbst auch Gebrauchsobjekt werden, weil es in einer Geste der Selbstlosigkeitauf scheinbar auf etwas der Musik Essenzielles verzichtet, nämlich den Zweck, gehört zu werden.
Ob bei „Sleep“ konzeptuell alles hunderprozentig stimmig ist? Interessante Frage, über die man sich viele Gedanken machen kann. Ich selbst habe „Sleep“ jedenfalls oft zum Schlafen gehört. Auch wenn ich selten acht Stunden Schlaf bekomme, so ist es trotzdem sehr schön während der letzten Züge des Werks wach zu werden.
Probieren geht über Studieren
However: Ich denke, dass wir die wirklich interessante Frage noch nicht geklärt haben. Musik zum Schlafen? Acht Stunden Musik, von denen nur unser Thalamus etwas mitbekommt? Schlafen wir denn nun wirklich qualitativ besser, wenn währenddessen entsprechende Musik läuft?
Ganz eindeutig ist das nicht. Die meisten Studien, die ich gefunden habe, wollten einen positiven Effekt für Schlafstörungen untersuchen. Was so ganz genau in der Nacht passiert, wenn wir diese oder jene Musik hören, ist entweder noch nicht untersucht oder mit den vorhandenen Methoden nicht wirklich auszumachen. Klar ist, dass externe Faktoren den Verlauf des Schlafs und auch den Inhalt unserer Träume beeinflussen können, was die Vermutung plausibel erscheinen lässt, dass Musik einen Unterschied macht. Zahlreiche Ratgeber empfehlen Ritualisierungen rund um das Schlafengehen. Vertrauen in die Sicherheit und Berechenbarkeit unserer Umgebung ist essenziell, deshalb kann vertraute, beruhigende Musik möglicherweise einen wirksamen Beitrag leisten. Ob das der einzelnden Person wirklich hilft, findet er*sie im Zweifel nur auf dem Wege des Selbstversuchs heraus.
Wenn ihr mir eine wissenschaftlich nicht fundierte Meinung erlaubt: Menschliche Bedürfnisse können so unterschiedlich sein, dass ich generalisierenden Behauptungen im Zusammenhang von Schlaf und Musik eher vorsichtig gegenüberstehe. Es braucht mit Sicherheit die richtige Musik in der richtigen Situation für die richtige Person, damit Musik im Schlaf toll sein kann. Ich denke aber, dass es sich lohnt, es auszuprobieren, vor allem, wenn man in einer unruhigen Ecke wohnt oder oft unter unterschiedlichen Bedingungen schlafen muss. Musik kann dann bestenfalls die Vertrautheit und Ruhe herstellen, die die Umgebung vielleicht nicht bietet.
Entschuldigung, hat hier irgendjemand meine Katze gesehen?
Außerdem hat mich Richters „Sleep“ schon mehrere Male im Traum besucht. Einmal träumte ich von einer Art Betriebsfeier in einem Großraumbüro. Es gab ein Buffet, eine Partyband und es wurde viel getrunken. Ich glaube, ich war auch auf der Suche nach meiner entlaufenen Katze. Jedenfalls fiel mir irgendwann auf, dass die Band echt seltsame Partymusik spielte. Viel zu langsam, mit meditativ anmutendem Gesang. Ich wurde kurz danach wach und hörte Grace Davidsons Sopran in der Passage “Path 3 (7676)” nun völlig klar. Auf irgendeine Art und Weise hat mich die Musik also gewiss erreicht. Ja, ich bin sofort wieder eingeschlafen!